Osttibet: Vier Flüsse, sechs Gebirge

Bis 2017 war es für Ausländer verboten, von Yunnan über den östlichen Himalaya auf das tibetische Hochplateau zu reisen. Wir erleben weites Grasland und dichte Wälder, spektakuläre Aussichten auf schneebedeckte Berggipfel, die schroffen Schluchten der prominentesten Flüsse Asiens und (wegen ihrer Höhenlage auch im wahrsten Sinn des Wortes) atemberaubende Bergpässe.


Auch der längste Fluss Asiens muss irgendwann einmal klein anfangen. Wegen seiner überschaubaren Breite von weniger als 100 Metern hat der Oberlauf des Jangtsekiang mit dem gewaltigen, kilometerbreiten Strom, der sich (und unvorstellbare Mengen an Plastikmüll) nördlich von Shanghai ins Ostchinesische Meer ergießt, nichts gemeinsam. Nicht einmal den Namen: Noch steht „Jinsha“ auf den Landkarten. Der „Lange Marsch“, die Flucht von Mao Zedong und seiner chinesischen Roten Armee vor den überlegenen Truppen der Nationalisten, führte auch durch die entlegene, unwegsame Region Kham, den weitgehend unbekannten Osten Tibets.

Tausende bunte Gebetsfahnen knattern im Wind.

Zwei Zahlen und einige chinesische Schriftzeichen prangen auf der Steinpyramide, die die Passhöhe markiert. Fünftausendeinhundertdreißig steht für die Seehöhe. Die drei hohen Stufen, die es für ein schickes Foto zu erklimmen gilt, haben es in sich: Von dem, was man auf Meeresniveau als Atemluft inhaliert, sind hier oben nur mehr 60 Prozent übrig. Dreihundertachtzehn ist die Nummer der Straße. Um genau zu sein: der Straße. Denn was den Amerikanern ihre Route 66 ist, ist den Chinesen die Nationalstraße G318. Sie gilt als schönste Fernstraße Chinas und führt entlang des 30. Breitengrades über nicht weniger als 5476 Kilometer von Shanghai bis zur sino-nepalischen Freundschaftsbrücke bei Zhangmu.

Wahrscheinlich – lesen können wir die Schilder ja nicht – ist auf den Wegweisern schon Lhasa angeschrieben, als wir von der 318 auf eine wenig befahrene Nebenroute einbiegen. Über nahezu ausgestorbene Hochtäler erreichen wir den Yarlung Tsangpo. Er fließt entlang der höchsten Himalaya-Gipfel über das tibetische Hochplateau und gilt damit als höchstgelegener Fluss der Welt. Seine Reise führt durch eine der tiefsten Schluchten des Planeten nach Indien; einige Flusskilometer sind wegen ihrer gewaltigen Stromschnellen unzugänglich und bis heute unerforscht. Apropos Indien, ebendort bekommt der wasserreichste Strom Asiens seinen bekanntesten Namen: Brahmaputra.

Fotografie und Reportage
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